I.
Le Mans liegt in der Region Pays de la Loire, 184 Kilometer südwestlich von Paris, und das Dorf Mulsanne befindet sich am Ende der gleichnamigen Geraden. 5.295 Menschen leben hier, man nennt sie Mulsannais. Schräg vis-à-vis von der Kirche Sainte-Madeleine sitzt ein sehr alter Mann mit weißen Bartstoppeln auf einem Klappstuhl aus Plastik vor seinem Haus. Er war ein Kind, als man die deutschen Kriegsgefangenen hier ins Lager brachte. Und er war zum ersten Mal in seinem Leben richtig verliebt, als er am 11. Juni 1955, gegen 18.30 Uhr, schwarzen Rauch in den Himmel aufsteigen sah. Pierre Levegh, ausgerechnet ein Franzose, war nach einer Kollision mit dem Austin-Healey von Lance Macklin in seinem Mercedes 300 SLR bei Start und Ziel in die Zuschauermenge gerast. Der Wagen explodierte, Levegh und 83 (!) Zuschauer starben. Auslöser des Unfalls war Mike Hawthorne, der für alle Beteiligten völlig überraschend auf die Bremse stieg und in die Boxengasse abbog. Der alte Mann sagt mit schwacher Stimme: »Das Feuer und die vielen Toten, das war schon wieder wie im Krieg.«
II.
Das Rennen ist nicht mehr so gefährlich wie früher. Der letzte Tote vor zehn Jahren, Allan Simonsen, ein Däne, 34 Jahre alt. Beim Hinausbeschleunigen aus der Tertre Rouge verlor er die Kontrolle über seinen Aston Martin Vantage und schlug in die Leitplanken ein, die Wucht des Aufpralls riss die Beifahrertür heraus. Sonst sah der Wagen nicht arg beschädigt aus. Unmittelbar hinter der Leitplanke stand ein Baum, weshalb sie sich nicht verformen konnte. Simonsen war nach dem Unfall ansprechbar, starb aber wenig später an einem Herzstillstand. Die Tertre Rouge, eine Rechtskurve, wurde entsprechend umgebaut. Die Autos sind noch sicherer geworden. Und die sechs Kilometer lange Hunaudières-Gerade (englisch: Mulsanne Straight), wo sie mit 400 km/h drüberflogen, entschärfte man schon 1990 durch zwei Schikanen. Es gilt also nicht mehr unbedingt, was der Wiener Motorsportjournalist Helmut Zwickl anlässlich des Todes von Porsche Pilot Jo Gartner (1. Juni 1986) in der besten Le Mans-Story aller Zeiten schrieb: »Der Tod in Le Mans kommt langsam. Er hat 24 Stunden Zeit. Der Tod in Le Mans heißt Krebs. Material-Krebs. Zuerst ein paar Metastasen, niemand nimmt sie wahr. Sie wuchern tief unten im Material, genährt von Vibrationen und Fliehkräften. Man ist längst verloren und es ist gut, dass man es nicht weiß.«