Fellinis Kantsteine

Filme beginnen mit einem Erdbeben. Dann langsam steigern. Alte Drehbuchregel. Aber bevor der Held auf die Bühne tritt, bevor das Drama seinen Lauf nimmt, braucht man einen Schauplatz. Eine Welt, in die man eintaucht. Der Zuschauer will wissen, wo er eintaucht, bevor er erfährt, was hier passiert. Gilt für jede gute Story. Umso mehr, zieht man in einem Lamborghini Huracán Sterrato los. Der ist für sich genommen schon ein eigenes Erzählexperiment: ein kompromissloser Supersportwagen mit einem freisaugenden Zehnzylinder, der gleichzeitig offroadtauglich ist. Was für ein Narrativ! So, und nun an dieser Stelle die Ortsmarke: Rimini, Italien. Hier wurde Federico Fellini geboren, hier liegt er begraben – und wenn es je ein Lamborghini als Charakter in einen Fellini-Film geschafft hätte, dann der Sterrato. Da gibt es keine zwei Meinungen.

Und Rimini heute? Keine leeren Winterstrände mehr. Keine dunklen Landstraßen entlang der Gleise, auf denen Züge in die Ferne pfeifen. Heute ist Riminis Strand voll. Selbst im Winter. Pizzabuden, Bars, Spielhallen, Hotels. Ganz viel Beton, Antennen, die in den Himmel ragen. Grau melierte Jogger, Kongressteilnehmer, Partygäste, Rentner. Fellini hätte das gefallen. Absurder Alltag, hässliche Warenwelt, tiefe Melancholie. Es dauerte bis 2021, ehe Rimini ein eigenes Fellini Museum bekam.

Fellini selbst hat nie in seinem Geburtsort gedreht. Er verließ den Ort mit 18 Jahren und kehrte nie wieder zurück – zumindest nicht zu Lebzeiten. In dem Buch »Il film ›Amarcord‹ di Federico Fellini« von Gianfranco Angelucci und Liliana Betti findet sich folgendes Zitat von Fellini: »Es ist nicht die Erinnerung, die meine Filme beherrscht. Zu sagen, dass meine Filme autobiografisch sind, ist eine ungenierte Dummheit. Ich habe mein Leben selbst erfunden. Ich habe es eigens für das Kino erfunden. Bevor ich den ersten Film gedreht habe, habe ich nichts anderes getan, als mich darauf vorzubereiten, groß und stark genug zu werden und mich mit der notwendigen Energie aufzuladen, um eines Tages ›Aufnahme‹ sagen zu können!«

Etwas anders sieht es da mit der »Auto«-Biografie des Lamborghini Huracán Sterrato aus. Es ist diese leidenschaftliche Kunst der Geschwindigkeit; diese Art, auf die Welt zu blicken, das italienische Argument für die Liebe zum Fahren selbst, ein Angriff auf das Sportwagen-Establishment, das in ihm ruht – besser: unruht. V10, freisaugend! Bella macchina! Durch seine offensichtliche Selbstreferenz, die Rückgriffe auf die Geschichte von Lamborghini und die bewusst künstliche Welt eines offroadtauglichen Supersportwagens, in die der Huracán Sterrato wie eine Figur platziert und verschoben wurde, zeigt sich: Hier wird nach den Regeln gespielt. Kein Zufall, kein Chaos. 

Wir wechseln vom Strada- in den Sport-Modus. Der Soundtrack ändert sich. Aus gefällig wird gefährlich. Das ESP greift jetzt deutlich später. Dann Vollgas. Sechs-, sieben-, achttausend – achteinhalbtausend Touren, um genau zu sein. Zweiter Gang! Über das, was sich da so im zentralen Nervensystem des Piloten abspielt, kann nur gemutmaßt werden. Es gibt leider keine neurowissenschaftlichen Aufzeichnungen dazu. Und alles andere wäre spekulativ. Subjektiv. Emotional. Damit leider auch unpräzise. Und unpräzise passt so überhaupt nicht zu diesem Lamborghini. Es passt zu keinem Lamborghini.