Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen

Im ramp Table Talk im the ramp space in Stuttgart traf ramp-Chefredakteur und Herausgeber Michael Köckritz auf Carl Tillessen, Trendanalyst, Autor und scharfsinniger Beobachter der Gegenwart. Gemeinsam sprachen sie über die Mechanismen des Begehrens, über Mode, Konsum und die Sehnsucht nach Sinn – und darüber, warum wir Dinge kaufen, die wir gar nicht brauchen.

Tillessen, der nach 17 Jahren mit eigener Modemarke heute eines der führenden Trendbüros leitet, erklärte, wie sich Trends entwickeln, warum sie uns beeinflussen – und weshalb sie manchmal selbst erfüllende Prophezeiungen sind. Er beschreibt Trends als »eine sich selbst verstärkende Spirale der Wahrnehmung«: Was wir oft sehen, gefällt uns irgendwann – ob wir wollen oder nicht.

»Trends sind nichts anderes als verschobene Wertsysteme«

»Ein Trend«, so Tillessen, »ist im Kern eine Geschmacksveränderung, die in eine Eigendynamik gerät.« Wenn wir bestimmte Farben, Formen oder Materialien immer wieder wahrnehmen, beginnen wir, sie zu mögen. Dieses unbewusste Phänomen – der Mere Exposure Effect – ist der Motor hinter Modezyklen, Designströmungen und kulturellen Bewegungen.

Doch Tillessen macht deutlich: »Wir erfinden keine Trends, wir beobachten sie. Aber in dem Moment, in dem wir sie veröffentlichen, verstärken wir sie. Wir geben ihnen Sichtbarkeit – und Sichtbarkeit ist Wirkmacht.«

Doch nicht jede Prognose trifft ins Schwarze. »Trends müssen den Nerv der Zeit treffen. Wenn sie das nicht tun, bleibt die Ware liegen – und das spüren unsere Kunden schmerzhaft.«

Über den Unterschied zwischen Hype und Haltung

Michael Köckritz wirft ein: Muss eine starke Marke wirklich jedem Trend folgen? Tillessen verneint: »Ganz im Gegenteil. Marken, die wissen, wer sie sind, wählen bewusst aus. Sie wissen, welche Strömung zu ihnen passt – und welche nicht. Manche kommen zu uns nur, um zu wissen, was sie nicht machen sollten.«

Denn Trends sind keine universellen Wahrheiten, sondern kulturelle Spiegel. »Eine Farbe, die in Europa Begeisterung auslöst, kann in China Ablehnung hervorrufen«, erklärt Tillessen. »Trends brauchen Kontext – und Haltung.«

Die neue Lust am Wissen

Ein Thema, das sich durch das Gespräch zieht: Kennerschaft. Köckritz spricht über die Bedeutung von Storytelling, über das Wissen um die Dinge, das sie begehrlich macht. Tillessen stimmt zu: »Es gibt keine Begehrlichkeit ohne Wissen. Jedes wirklich faszinierende Produkt – ob Uhr, Wein oder Auto – ist mit einer Geschichte verbunden. Wer mehr weiß, empfindet mehr Freude.«

Doch in Zeiten von Fast Fashion und Social Media ist dieses Wissen bedroht. »Wir haben verlernt, Materialien zu verstehen«, sagt Tillessens Kollege Niels Holger Wien. »Was früher selbstverständlich war – Stoffe zu fühlen, Herkunft zu kennen – ist heute Spezialwissen geworden.«

Social Media, KI und die Beschleunigung der Welt

Die Diskussion weitet sich auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz aus. »Social Media zeigt keine Realität«, warnt Wien. »Es ist eine eigene Welt, die sinnliche Erfahrung ersetzt – und damit unsere Wahrnehmung verarmt.«

Tillessen ergänzt: »Früher hat es Jahre gedauert, bis ein Trend von der Avantgarde in den Mainstream gelangte. Heute dauert das manchmal Tage. Wenn wir in London etwas sehen, ist es morgen schon in Stuttgart.«

Auf die Frage, ob KI Trends vorhersagen könne, antwortet er: »Nein. KI erkennt Muster, aber nicht das Pendel. Trends sind kein linearer Prozess, sondern Überlagerungen aus emotionalen Schwingungen. Dafür braucht es Erfahrung, Empathie – und Bauchgefühl.«

Von Vertrauen, Brot und der Sehnsucht nach Echtheit

Später wird das Gespräch grundsätzlicher. Tillessen beschreibt eine tiefe Vertrauenskrise, die unsere Zeit prägt – politisch, gesellschaftlich, ästhetisch.
»Marken, die früher über jeden Zweifel erhaben waren, haben Vertrauen verloren. Und das schafft neue Bedürfnisse – nach Dingen, denen wir wieder glauben können.«

Ein Symbol dafür sind für ihn handwerkliche Bäckereien: »Ein einfaches Brot wird plötzlich zum Luxusgut, weil es für Reinheit, Vertrauen und Authentizität steht. Das ist die neue Währung des Begehrens.«

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